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Ist die Bundestagswahl fair für kleine Parteien?

September 13, 2021

47 Parteien wollen in den Bundestag: von etablierten wie der CDU über Newcomer wie Volt bis zur skurrilen wie der ökoanarchistischen Bergpartei. Ganz gleich ist der Weg ins Parlament für diese Parteien allerdings nicht. Parteien, die bereits im Bundestag sitzen, genießen einige Vorteile gegenüber kleinen und neuen Parteien. Wir diskutieren, welche Hürden man als eine nicht-etablierte Partei nehmen muss und wie fair diese sind. Brauchen wir ein neues Wahlsystem?

Wie Parteien zur Bundestagswahl zugelassen werden

Welche Parteien bei der Bundestagswahl antreten dürfen, entscheidet der Bundeswahlausschuss. Voraussetzung dafür bei neuen Parteien ist, dass sie die Kriterien für eine Parteigründung erfüllen.

Doch wer sitzt in diesem Wahlausschuss und prüft die Kriterien? Den Vorsitz hat der oder die BundeswahlleiterIn. Diese Position wird vom Bundesinnenministerium ernannt, kann also von der Politik beeinflusst werden.

Der Vorsitz bestimmt wiederum acht BeisitzerInnen. In der Praxis schlagen die Bundestagsfraktionen vor, wer BeisitzerIn werden soll. Die aktuelle Zusammensetzung: drei Personen von CDU/CSU und ein von den anderen Fraktionen inklusive AfD. Der Ausschuss ist also nicht neutral (Bundeswahlgesetz), sondern politisch besetzt.

Ein Beispiel für mögliche Interessenskonflikte: Bundeswahlausschuss-Mitglied Georg Pazderski ist AfD-Fraktionsführer im Berliner Parlament und selbst Bundestagskandidat bei dieser Wahl. Trotzdem entscheidet er darüber mit, welche konkurrierende Parteien zur Wahl zugelassen werden.

Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hat die Problematik in einem Bericht 2009 festgestellt. 2013 gab es deswegen eine erste Reform: Zwei RichterInnen vom Bundesverwaltungsgericht sind seitdem ebenfalls Mitglied im Bundeswahlausschuss; abgelehnte Parteien können nun gegen die Entscheidung klagen. Das ist auch nötig: 2021 wurde die Deutschen Kommunistischen Partei erst nach ihrer Klage für die Bundestagswahl zugelassen.

Wie Parteien an Geld kommen

Damit BürgerInnen von neuen und kleinen Parteien erfahren, müssen diese auf sich aufmerksam machen. Aber Wahlkampf ist teuer. Beispielsweise hat die Bundesebene der Union 2017 knapp 30 Millionen Euro ausgegeben. Von solchen Beträgen können Kleinparteien nur träumen.

Woher erhalten die Parteien ihr Geld? Ihre Einnahmen setzen sich meistens zusammen aus:

Im Jahr 2019 wurden insgesamt 194 Millionen Euro an die Parteien aus Steuermitteln ausgeschüttet. Davon ging fast alles (97 Prozent) an die etablierten Parteien, die im Bundestag vertreten sind. Die übrigen 21 Parteien mussten sich drei Prozent aufteilen. Um die Unterschiede zu verdeutlichen: während die SPD 55.000.000 Euro erhielt, gab es für die Tierschutzallianz 19.000 Euro.

Wie die Parteienfinanzierung genau funktioniert, erläutert dieser Artikel zur Formel für die staatliche Parteienfinanzierung. Darin besonders wichtig ist der Faktor Wählerstimmenanteil: für jede erhaltene Stimme in den letzten Wahlen erhalten Parteien Geld: die ersten vier Millionen Stimmen der letzten Bundes- Europa und Landtagswahlen bringen 1 Euro und 3 Cent. Für jede weitere Stimme gibt es 85 Cent. Das ist ein Unterschied von nur 17 Prozent.

Für mehr Chancengleichheit zwischen kleinen und großen Parteien im Wahlkampf wäre es fairer, wenn kleine Parteien mehr finanzielle Unterstützung erhalten. Denn kleine Parteien haben überall sonst Nachteile (Beispiele: wenig mediale Berichterstattung, wenig Hauptamtliche, schlechter Platz auf dem Wahlzettel).

Mehr Chancengleichheit gäbe es mit einer feineren Staffelung. Beispielsweise:

  • für die erste Million Stimmen: zwei Euro
  • für die zweite und dritte Million Stimmen: 1,5 Euro
  • ab der fünften Million Stimmen: 0,5 Euro

Damit würden die ersten Stimmen deutlich wertvoller werden. Kleinere Parteien erhielten relativ mehr Geld und könnten damit ihre Strukturen aufbauen. Gleichzeitig würden auch die größeren, staatstragenden Parteien weiter unterstützt werden.

Wie Parteien auf dem Wahlzettel “gefunden” werden

Der Wahlzettel zur Bundestagswahl ist lang und mehrfach gefaltet. Die Parteien oben auf dem Stimmzettel sind präsenter als Parteien unten und dadurch etwas bevorteilt. Denn  immerhin ungefähr jedeR siebte WählerIn entscheidet sich erst am Wahltag und einige davon sogar erst im Wahllokal.

Wie kommt die Reihenfolge zu Stande? Oben aufgeführt werden Parteien, die bereits im Parlament sitzen, sortiert nach ihrem letzten Wahlergebnis der Zweitstimmen. Anschließend kommen alle anderen Parteien alphabetisch geordnet.

Dieser leichte Vorteil für etablierte Parteien könnte umgangen werden, indem man – wie bei wissenschaftlichen Umfragen – die Antwortmöglichkeiten (= Parteinamen) zufällig anordnet (randomisiert). Auf diese Weise würden BürgerInnen wenigstens einmal die Namen der Kleinparteien wahrnehmen.

Wie Parteien ins Parlament einziehen können

Bei der Bundestagswahl gilt die Fünf-Prozent-Hürde. Das heißt, dass eine Partei mindestens fünf Prozent aller abgegebenen Zweitstimme erhalten muss, um ins Parlament einziehen zu dürfen. Das ist für die etablierten Parteien kein Problem, aber eine besondere Hürde für neue und kleine Parteien.

Der Vorteil einer Mindestanzahl an Stimmen ist, dass sie eine Zersplitterung des Parlaments in Mini-Fraktionen verhindert. Diese Regel steigert die Stabilität im Parlament und erleichtert Regierungsmehrheiten. Abschreckendes Beispiel: Die Niederlande haben keine Mindesthürde – und deswegen seit einem halben Jahr keine Regierung.

Auch wenn die Fünf-Prozent-Hürde Vorteile hat, benachteiligt sie eindeutig kleine Parteien. Wenn man die Hürde beibehalten möchte, aber kleinen Parteien eine fairere Chance geben möchte, könnte das Wahlverfahren geändert werden.

Alle Wahlverfahren haben Nachteile. Schaut euch dieses unterhaltsame Erklärvideo an, in dem Mondbewohner für eine neue Basis abstimmen müssen. Aber sie haben auch Vorteile. Für die Bundestagswahl böten sich zwei alternative Wahlverfahren an:

Wählen in zwei Runden

Die Zweitstimme würde abgeschafft werden (was alle Probleme mit Überhang- und Ausgleichsmandaten beseitigt und die örtliche Repräsentanz von Abgeordneten steigert). Stattdessen würde man nur noch direkt den oder die KandidatIn im eigenen Wahlkreis wählen. Erreicht er oder sie in der ersten Runde eine absolute Mehrheit (über 50 Prozent) ist die Person gewählt. Ansonsten gibt es eine zweite Wahlrunde. In dieser dürfen die KandidatInnen mit wenigen Stimmen (zum Beispiel unter fünf oder unter zehn Prozent) nicht mehr antreten.

Dieses System erlaubt es den WählerInnen, in der ersten Runde für ihre wahre Vorliebe zu stimmen. Sollte diese Partei es nicht schaffen, kann in der zweiten Runde strategisch gewählt werden. Beispiel: in der ersten Runde Volt wählen (die es nicht schaffen) und in der zweiten Runde SPD, um einen CDU-Abgeordneten zu verhindern.

Wählen nach einer Rangfolge

Statt nur eine Partei zu wählen, könnte man auch auch seine Vorlieben durchnummerieren. Schafft es die Lieblingspartei nicht über die Hürde, dann wird die eigene Stimme an Platz zwei weitergegeben. Schafft auch dieses es nicht, dann an Platz drei und so weiter.

Beispiel: Auf Platz 1 Die Humanisten setzen, auf Platz 2 Die Piratenpartei, auf Platz 3 die Grünen. Weil es die ersten beiden Parteien nicht über die Hürde schaffen, ginge die Stimme an die Grünen. Im Vergleich zu unserem jetzigen System würden kleine Parteien sehr viel mehr Stimmen erhalten, weil WählerInnen darauf hoffen können, dass es ihre Lieblingspartei vielleicht doch schafft.

Dieses System garantiert, das nie eine Stimme verloren geht. Es ist aber ziemlich kompliziert. Verrückt ist es aber nicht: in Bremen wird ein ähnliches System mit mehreren Stimmen bereits angewendet (per Panaschieren und Kumulieren) und auch in Irland geben BürgerInnen mehrere Vorlieben ab.

Zugabe

  • Wer sich für Reformen des Wahlsystems einsetzen will, ist im Verein “Mehr Demokratie e.V.” gut aufgehoben.
  • Der Wahl-O-Mat für progressive Themen und Inhalte: Progresso Machine.

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