Was würde eigentlich passieren, wenn man den Bundestag nicht wählen, sondern auslosen würde? Die Idee der Demarchie (Herrschen durch Losen) spielen wir in Folge 1 von Y Politik durch. Wäre das Parlament repräsentativer und demokratischer? Wir beantworten die Frage aus zwei Perspektiven: Tanja aus einer demokratietheoretischen und Vincent aus einer Praxis-Perspektive. In unserer Zugabe stellen wir euch zwei Personen vor, die sich auf unterschiedlichen Wegen dafür einsetzen, die Demarchie einzuführen.
Dieser Artikel bietet nur eine Zusammenfassung. Die vollständigen Argumente hörst du in der Podcast-Folge: hier im Player oder direkt auf Spotify, Apple Podcast, Google Podcast, Audio Now, Deezer und Stitcher.
Der Bundestag 2017 ist ein Parlament der älteren, gebildeten Männer
Ein großes Problem des deutschen Bundestags ist, dass er die Bevölkerung in ihrer demographischen Zusammensetzung nicht repräsentiert.
Fakt 1: Im Bundestag ist der Männerüberschuss größer als an der Technischen Hochschule Aachen. Nur 30,7 % der Mitglieder im Bundestag sind Frauen – ein Prozentpunkt weniger als an der RWTH Aachen. Besonders krass sieht es bei AfD aus: nur jeder zehnte Abgeordnete ist eine Frau. Damit ist das Geschlechterverhältnis im Parlament so unausgeglichen wie seit 1994 nicht mehr.
Fakt 2: Der Bundestag ist eine Ü30-Party. Die 35 bis 64 jährigen sind extrem überrepräsentiert. Besonders junge und alte Menschen sind kaum im Parlament vertreten, denn nur sehr wenige sind in ihren 20igern oder 70igern. Damit ist der Bundestag gut vier Jahre älter als der Durchschnitt der deutschen Bevölkerung, nämlich 49,4 Jahre zu 45 Jahre.
Fakt 3: Der Bundestag ist ein Akademikerschuppen. Nur 33 aller 709 Abgeordneten haben entfernt etwas mit dem Bereich Handwerk zu tun. Im Gegensatz dazu hat fast jeder fünfte Abgeordnete einen Doktortitel. Zum Vergleich: in der Bevölkerung hat nur jede 100. Person einen Doktortitel.
Die Süddeutsche Zeitung hat den aktuellen Bundestag vollständig analysiert und zeigt in dem datenjournalistischen Artikel „Volk und Vertreter“ auf, wie wenig repräsentativ das Parlament ist [Nachtrag vom 27.02.2018].
Daher stellt sich die Fragen, ob dieses Parlament aus mittelalten, männlichen Akademikern überhaupt die besten demokratischen Entscheidungen treffen kann – oder ob ein ausgeloster Bundestag dafür nicht besser geeignet wäre.
Den Bundestag auslosen?
Es gibt verschiedene Ansätze wie ein Lossystem in unser parlamentarisch demokratisches System eingebunden werden könnte. Diese gehen von abgeschwächteren Formen, die eine ausgeloste Bürgerversammlung mit Beratungsfunktion vorsehen, zu radikaleren Formen, in denen man das gesamte Parlament per Los besetzt. In dieser Folge spielen wir die radikale Idee eines Lossystems durch – also eine echte Demarchie. Was würde passieren, wenn man den Bundestag nicht mehr wählen würde, sondern in einem Losverfahren bestimmt?
Aus demokratietheoretischer Perspektive sind Wahlen nur das Mittel zum Zweck
Demokratie wird oft mit Wahlen gleichgesetzt, was im Grunde genommen nicht korrekt ist. Denn auch ein autoritäres Regime kann sich wählen lassen und ist trotzdem keine Demokratie. Viel mehr bedeutet Demokratie, dass die Macht vom Volke ausgeht und diese meistens in einem repräsentativen System seinen Ausdruck finden.
Wie diese Repräsentation zustande kommt, ist jedoch nicht in Stein gemeißelt. Wenn man davon ausgeht, dass Repräsentation auch bedeutet, dass die Bevölkerung sich im Parlament nicht nur mit ihren Interessen widerspiegelt, sondern auch in ihrer demographischen Zusammensetzung, ist das Losverfahren demokratischer.
Durch das Lossystem würde auch nicht plötzlich Willkür herrschen, sondern weiterhin politische Stabilität. Wie die letzten Wahlen und Referenden gezeigt haben, sind Wahlen kein Garant für stabile Mehrheitsverhältnisse oder vorhersehbare Entscheidungen.
Eine klare Gewaltenteilung hätte man erreicht, wenn die Regierung nicht mit Personal aus dem Parlament besetzt wird. Aus diesem Grund könnte man den Bundestag für den deliberativen Gesetzgebungsprozess auslosen und Experten für die ausführenden Aufgaben der Exekutiven einsetzen.
Politische Legitimität kann zum Beispiel aus der Akzeptanz des Verfahrens kommen. Wenn eine Mehrheit das Lossystem und die Möglichkeit, dass es jeder in den Bundestag schaffen kann, akzeptiert, wäre dieses gerechte System auch legitimiert.
Abonniere Lösungen für das dritte Jahrtausend
Y Politik liefert Dir Lösungen für das dritte Jahrtausend. Du findest den unabhängigen Politik-Podcast mit seinen über 40 Folgen auch auf den großen Plattformen:
Spotify | Apple Podcast | Google Podcast für Android | Deezer | Audio Now | Stitcher
Aus der Praxis-Perspektive hätte das Losen Vorteile – könnte aber Chaos bedeuten
Zunächst wären ausgeloste Abgeordnete näher dran an der Bevölkerung. Denn alle vier Jahre würden Politikeinsteiger in den Bundestag ziehen, deren Lebenserfahrung nicht von der Politik, sondern vom Alltag geprägt ist. Wahrscheinlich hätten geloste Abgeordnete einen besseren Blick auf die Probleme der kleinen Leute.
Ein Wahlsystem mit Losen würde die Parteien entmachten. Denn aktuell bestimmen die Parteien, wer im Parlament sitzt – vor allem bei sicheren Listenplätzen. Wenn diese Königsmacher-Funktion wegfiele, verlören Parteien ihre attraktivste Funktion. Fraktionen hingegen müssten wahrscheinlich ausgebaut werden, um unerfahrene Abgeordnete zu unterstützen. Deren MitarbeiterInnen gewönnen folglich an Einfluss durch ihre Expertise.
Für den Berliner Politikbetrieb würde die Umstellung auf ein Lossystem ein Neuanfang bedeuten. Aktuell gibt es ein riesiges Netzwerk aus Parlament und Interessenvertretern (sowohl Atomstromlobby als auch Greenpeace). Connections und Vertrauen zwischen Abgeordneten und ihrem Umfeld würde zerstört werden. Zwei Szenarien sind denkbar: Entweder der Politikbetrieb schrumpft, weil das Lossystem zu einer hohen Fluktuation führt und damit Lobbyarbeit unrentabel macht. Oder der Politikbetrieb wächst, weil Verbände und Lobbyisten noch mehr Personal brauchen, um in nur vier Jahren enge Kontakte aufzubauen.
Schließlich liefe die Regierungsbildung ganz anders. Momentan geht die Regierung aus dem Parlament hervor. Das wäre mit einem Lossystem nur schwer möglich. Wahrscheinlich bedürfte es eines Präsidialsystems, in dem die Präsidentin oder der Präsident um Zustimmung im Parlament werben muss.
Zugabe: Wer sich für die Demarchie, also „losen statt wählen“, einsetzt
David Van Reybrouck ist ein belgischer Historiker und Archäologe. 2016 hat er die deutsche Ausgabe seines Buchs veröffentlicht “Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist”. Dort vertritt er die These, dass Wahlen etwas aristokratisches sind und das Los wahrhaft demokratisch wäre. Er begründet seine These mit historischen Fakten und zeigt auf, wo Lossysteme schon überall angewendet wurden und vor allem, dass Wahlen damals nicht eingeführt wurden, um Demokratien zu stärken, sondern um sie einzuschränken und die Bevölkerung zu beruhigen. Seine These hat er in einem kurzen Video zusammengefasst.
[Aktualisiert am 11. Oktober 2018:] Ilan Siebert hat seinen Plan umgesetzt und die Initiative „Es geht los!“ gegründet. „Es geht los!“ will ein gelostes Diskussionsforum etablieren, damit BürgerInnen eine stärkere Position in der Bundespolitik einnehmen. Ziel sei die Organisation und Durchführung des ersten ausgelosten BürgerInnenrats mit 100 Beteiligten auf Bundesebene. Die Initiative hat bereits einige UnterstützerInnen gefunden und freut sich über weitere Hilfe.
[Nachtrag am 12. November 2018:] Wir haben Ilan Siebert und Katharina Liesenberg zu einem Interview getroffen. Darin erklären sie, wie sie Es geht LOS gegründet haben, um die Demokratie zu retten.
Show Notes der Demarchie-Folge
-
01:15
Phänomen: Wie repräsentativ ist der Bundestag
-
04:30
Wie ein Lossystem aussehen könnte
-
08:18
Gute Gründe, die für ein Lossystem sprechen
-
29:26
Fazit: Ein Lossystem ist theoretisch gut, praktisch schwierig
-
32:03
Abstimmung: Sollten wir den Bundestag auslosen?
-
33:10
Zugabe: Zwei Aktivisten für das Losverfahren: David Van Reybrouck und Ilan Siebert
Demarchie ist nicht die einzige Demokratie-Alternative
In einer anderen Folgen haben wir eine weitere Alternative zur Demokratie besprochen: die Technokratie. In dieser wird durch das Wissen bestimmt, wer Macht erhält.
- In Folge 35 stellen wir vor, wie eine Expertenregierung funktionieren würde. Spoiler: nicht gut.
Ein Parlament, das so wichtige Entscheidungsbefugnisse hat, sollte aus älteren Menschen mit Erfahrungsweisheit bestehen. Und es wäre gut, wenn viele der Menschen eine Handwerks- Berufsausbildung inklusive abgeschlossenes Studium besitzen würden. Handwerk; um zu wissen was Geld verdienen und Geld ausgeben bedeutet und Studium; Weil Mensch damit beweist das er/sie sich intensiv mit einem Thema befassen kann.
Damit würdest du aber die neuen innovativen Ideen ausschließen, wenn du nur auf Menschen setzt die bereits älter sind. Sicher haben die einen gewissen Erfahrungsschatz, aber der Nachteil ist eben, dass sich ältere Menschen auch schon an gewisse Routinen gewöhnt haben und sie deswegen auch eher Konservativ sind. Ein guter Mix ist hier also wichtig und nicht die Erfahrung.
Vielen Dank für den interessanten Podcast.
In diesem Video skizziert Timo Rieg seine Form der Los-Demokratie:
https://www.youtube.com/watch?v=VWQyQTKeZNs
Der große Unterschied: Keine Abgeordenten und Abgeordnetinnen für 4 Jahre, sondern
für ein Gesetzentwurf bzw. 5 Tage.
Ich könnte mir durchaus ein System vorstellen, in dem immer noch gewählt wird.
Nicht der Bundestag, sondern direkt die Parteien, die Prozente erlangen (die nicht wie heute auf Parlamentssitze ungerechnet werden). Die Parteien können sich zu Koalitionen zusammenschließen, wenn sie gemeinsam 50% der Wählerstimmen erhalten haben. Um Berufspolitiker überflüssig zu machen, würde ich die Personen, die Minister oder Ministerinnen werden wollen, auslosen lassen. Beispiel: Die Grünen würden das Umweltministerium bekleiden: Es gäbe eine Lostrommel mit 100 Namen (50 männlich/50 weiblich). Das selbe mit dem Kanzlerposten. Und diese gewählte und geloste Regierung würde von wechselnen Jury-gremien (wie Rieg es beschreibt) kontrolliert.
Herzliche Grüße
Georg